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Die Partitur kreativer Arbeit

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Nicht mehr das Produkt am Ende des Arbeitsprozesses ist entscheidend für ökonomischen Erfolg, sondern die Organisation der Arbeit selbst. Vor diesem Hintergrund finden Paulo Virnos Analysen von gegenwärtiger Erwerbstätigkeit statt. Egal ob in der Unternehmensberatung, im Management, in neuen Formen von Kreativ-, Öffentlichkeits- oder Medienarbeit: Das, was heute zählt, sind „Variation und Intensivierung gesellschaftlicher Kooperation“, so Virno.

Neue Virtuosen

Der rigide Industriekapitalismus prägte bis in die 1960er Jahre die Lebensrealität eines Großteils der Arbeiter_innen des 20. Jahrhunderts. Arbeit war ein repetitiver und vorhersehbarer Prozess. Die monotone Tätigkeit am Fließband, das quantitativ Messbare und Planbare dominierten den sich wiederholenden Ablauf von Produktion und Wertschöpfung. Die Geschwindigkeit der Maschine und die Kraft der Mechanik galten als Fortschritt, die „Fabriksdisziplin“ wurde zum zentralen Vokabel dieser Zeit.

Parallel dazu entwickelte sich aber eine völlig konträre Form von Arbeit. In den frühen Kulturindustrien Anfang des 20. Jahrhunderts etwa war man nicht mit der Produktion von Dingen beschäftigt, sondern mit dem Tun selbst, mit Darstellung, Kommunikation und Attraktion. Es sind die Künste der Massen, die sich abseits von bürgerlicher Ästhetik in Varietés, Musical-Theatern, Zirkuszelten und in den Kinosälen des early cinema etablierten. Die flinken Fingerläufe der Pianist_innen dieser Zeit, das Spektakel der Tänzer_innen, die wandlungsfähige Ausdruckskraft der Schauspieler_innen, der Exhibitionismus der Freaks und die vermittelnden oder überzeugenden rhetorischen Finessen der Redner_innen vereinte die besondere Fähigkeit aller ausführenden Künste: die Virtuosität. Ihre kreative Tätigkeit ist zum Selbstzweck geworden, zu einer Tätigkeit ohne Werk, also immaterieller Arbeit. Die Virtuosen produzieren nicht, sie verändern. Es ist eine soziale und interaktive Arbeit, die die Gegenwart anderer, eines Publikums erfordert, bei dem im besten Fall ein Wohlsein oder ein Schock erzeugt wird, wenn die kreative Leistung virtuos und spektakulär genug war.

Mit dem Rückgang der Fabrikarbeit übernehmen die virtuosen Künste mehr und mehr „die Rolle der die Produktionsmittel erzeugenden Industrie“. Erkannten Adorno und Horkheimer in diesen kulturindustriellen Räumen noch Reste der Vergangenheit im Rahmen einer allgemeinen Fordisierung, so sind diese Formen früher virtuoser Arbeit für Virno eher Vorahnungen und Vorwegnahmen. Die Kultur- und Spektakelindustrie war für ihn die Pionierin der “Industrie der Kommunikationsmittel”, die sich mittlerweile vollständig durchgesetzt hat. Die Tätigkeit ohne Werk avanciert in der postfordistischen Arbeitsorganisation „vom Spezial- und Problemfall […] zum Prototyp der Erwerbsarbeit im Allgemeinen“, so Virno.

Die Virtuosen sind die arbeitenden Subjekte von heute. Die (Kreativ-)Arbeiter_innen der Gegenwart sind nicht mehr einem exekutiven Charakter von Arbeit unterstellt. Sie müssen nicht monofunktional in zeitoptimierten Produktionsabläufen werken, sondern permanent mit neuen Situationen fertig werden, mit Problemen umgehen, die nicht vorherzusehen waren. Wenn im Industriezeitalter noch der Plan und der Takt der Maschinen die Arbeiter_innen orchestrierten, so haben wir es jetzt mit einer Arbeit zu tun, der die Partitur zu fehlen scheint. Kommunikative und schöpferische Improvisation ist zur Kernkompetenz kapitalistischer Produktion geworden, Denken zur grundlegenden Antriebsfeder für Reichtum.

General Intellect

Und damit erreichte der Kapitalismus eine neue Qualität von Ausbeutung. Grundlegende Merkmale des menschlichen Wesens sind unter den kapitalistischen Produktionsprozess subsumiert worden: sprachliche Fähigkeiten, Wissen und Einbildungskraft, die Lust zu Handeln und relationale Begabungen sind die neuen Werkzeuge der Manager_innen, IT-Expert_innen, Wissenschaftler_innen, Journalist_innen, Designer_innen, Konzept-Künstler_innen und aller anderen innerhalb der Wertschöpfungskette der Wissensgesellschaft. Gesellschaftliche Kooperation wird zur wichtigsten Produktivkraft, Arbeit nicht nur zur Koordinationstätigkeit, sondern auch zur Überwachungstätigkeit, die oft freiwillig geleistet wird. Das Arbeiter_innenwissen, also die kleinen Alternativen, Tricks und Lösungen, die im Fabrikalltag unter den Arbeitnehmer_innen getauscht wurden, um den Zeit- und Leistungsdruck zu mindern, werden heute nicht mehr heimlich genutzt, sondern explizit vom Unternehmen eingefordert. Kooperation, Flexibilität, Kreativität, lebenslanges Lernen, soziale Netzwerke und Teamarbeit sind zu zentralen Kategorien in den erfolgreichen Karrieren des Postfordismus geworden.

Immaterielle Arbeit Bild: larksflem unter Creative Commons Lizenz

Die neue Partitur der modernen Virtuosen ist der General Intellect, der allgemeine Intellekt der Gesellschaft, „das zum Stützpfeiler der gesellschaftlichen Produktion gewordene abstrakte Denken“, schreibt Virno. “Der General Intellect scheint heute als Fortführung der Lohnarbeit, System von Hierarchien und tragende Achse der Schöpfung des Mehrwerts.“

Exodus

Ist es möglich, den Intellekt jenseits von Lohnarbeit oder sogar im Gegensatz zu dieser einzusetzen? Bei den Exitstrategien aus einem System, das es geschafft hat, den Menschen nicht mehr nur physisch am Förderband, sondern auch über seine kognitiven Fähigkeiten auszubeuten, stellt Virno das Motiv der Flucht ins Zentrum seiner Überlegungen. Der Exodus erscheint ihm erstrebenswerter als die Option Widerstand. Die Massenflucht der Arbeiter_innen am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Fabrikregime der amerikanischen Ostküste, bei der sie ihr Glück und billiges Land im Landesinneren suchten, dient ihm als historischer Horizont. Durch die Flucht war Arbeitskraft für kurze Zeit Mangelware und stieg im Wert, die Arbeiter_innen nahmen „die Gelegenheit wahr, ihre Ausgangslage umkehrbar zu machen“.

Operaismus

Die wichtigste Rolle im Denken Virnos spielen aber seine Erfahrungen als politischer Aktivist in den autonomen Arbeiter_innenkämpfen in Italien. Die Fabriksflucht italienischer Jugendlicher Ende der 1970er Jahre und ihre Entscheidung für Teilzeitarbeit ist der zweite historische Exodus in Virnos politischer Philosophie. Die Lebensumstände der Industriearbeiter_innen und die außerinstitutionellen Kämpfe der autonomia operaio („Arbeiter-Autonomie“) in den großen Fabriken stehen im Zentrum des Interesses italienischer Intellektueller dieser Zeit. Es gilt einen hoch industrialisierten Kapitalismus zu überwinden, der den menschlichen Körper zwischen die Maschinen einzupassen versucht und Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern verschleißt. Intellektuelle wie Virno, Massimo Cacciari oder Antonio Negri sind mit der linken Arbeiterbewegung solidarisiert und organisieren die Kritik an kapitalistischer Akkumulations- und Produktionsweise in außerparlamentarischen Gruppen wir der Potere Operaio („Arbeitermacht“). Ende der siebziger Jahre radikalisieren sich die Kämpfe in den italienischen Fabriken. Neben der starken Jugendprotestbewegung mit ihren gewaltvollen Auseinandersetzungen, spitzt sich auch die Lage rund um terroristische Gruppierungen immer mehr zu. Der Gipfel ist die Entführung und Ermordung des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden 1978. Die staatlichen Repräsentant_innen beschließen hart durchzugreifen. In einem für Italien einmaligen Akt staatlicher Repression landen zahlreiche Intellektuelle im Gefängnis. Darunter auch Paolo Virno. Er bezahlt seinen politischen Aktivismus mit mehreren Jahren Haft. Der Vorwurf: Ein Nahverhältnis zu den Roten Brigaden. Andere, wie Antonio Negri, gehen ins Exil nach Frankreich oder Deutschland. Nach drei Jahren wird Virno freigesprochen. Mittlerweile ist er Professor für Philosophie an der Universität Rom.

Multitude

Die postoperaistische Bedeutung des Exodus ist „keineswegs als harmlos, individualistisch oder eskapistisch-esoterisch zu verstehen“, schreibt Gerald Raunig, der gemeinsam mit Klaus Neundlinger eine zentrale Rolle bei der Übersetzung von Virnos Texten ins Deutsche einnimmt. „Es geht in dieser exodischen Form der Innovation um eine gefährliche, positive Form des Abfallens, eine Flucht, die gleichzeitig nach neuen Waffen suchen lässt. Anstatt Herrschaftsverhältnisse als unverrückbaren Horizont vorauszusetzen und dennoch gegen sie anzukämpfen, verändert diese Flucht die Bedingungen, unter denen die Voraussetzung stattfindet.“

Der Weg des Exodus, den Virno vorschlägt, führt über einen „radikalen zivilen Ungehorsam“, der das Vermögen der Befehlsgewalt des Staates selbst in Frage stellt, und – gleichzeitig – über die Schaffung einer nichtstaatlichen Öffentlichkeit: der Multitude. Dort sollte es möglich werden, die Spielarten aktueller Protestbewegungen zu vereinen. Es ist eine Form von Öffentlichkeit, die Heterogenität zulässt und organisiert. Eine Öffentlichkeit, die Verbindungslinien in der heutigen globalisierten Gesellschaft aufzeigt, die Arbeit, Bildung und Wissen prägen – in kultureller wie sozialer Hinsicht. Die Multitude ist als “Matrix einer nichtstaatlichen Republik” zu denken, als eine neue radikale Form von Demokratie.

Literatur:

Paolo Virno: „Exodus“, hg. u. übers. v. Klaus Neundlinger u. Gerald Raunig, Wien/Berlin: Turia Kant 2010

Paolo Virno: „Grammatik der Multitude / Die Engel und der General Intellect“, übers. v. Klaus Neundlinger, Wien/Berlin: Turia Kant 2006

Gerald Raunig: „Die Grammatik verändern“, http://transform.eipcp.net/correspondence/modifyingthegrammar, 7.1.2008

MALMOE on the webDieser Text ist am 28. April 2011 in der Zeitschrift Malmoe Nr. 54 erschienen.


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